Am Türrahmen der Schneiderwerkstatt hängen an einem langen Nagel mehr als ein Dutzend gelber Maßbänder. Eines von ihnen fällt besonders durch seine vielen Ösen und deutlichen Gebrauchsspuren auf. „Das gehörte Konrad Ortkemper, ein Schneidermeister und mein Vor-Vorgänger“, sagt Arune Elsmann, die jetzige Inhaberin des Essener Ateliers Edelmaß.
Ich rätsele über den Zweck der Ösen. Statt einer Antwort legt sie mir das Maßband um die Taille und schließt es wie einen Gürtel. Eine genial einfache Idee – ein Gürtel mit Maßeinheiten, die sich einfach ablesen lassen. „Durch das Engschnüren rutscht das Band automatisch an unsere engste Stelle. Manchmal ist die Taille ja gar nicht da, wo wir sie gern hätten“. Sie legt den Maßgürtel um ihre Mitte und locht ein in die vorletzte Öse. „Ich habe z.B. in der Proportion zu kurze Beine.“ Wäre mir gar nicht aufgefallen an der schmalen Gestalt. So weiht sie mich ein in das Geheimnis der optischen Beinverlängerung und die Optimierung manch anderer Eigenheiten. Und sie skizziert mir Lösungen durch den richtigen Schnitt…
Das andere große Geheimnis sind die zum jeweiligen Schnitt passenden Stoffe. Arune zeigt mir die eleganten Tuche von SCABAL und die festen Wollstoffe von Harris Tweed. Ihre Augen leuchten, als sie über die Rücken der Tuchballen streicht.
Harris Tweed liegt so britisch diskret in den Regalen, dass mir die Brücke zwischen diesem Anblick und den strahlenden Augen meiner Gastgeberin nicht so recht gelingen will. Ich sehe ihren Griff zu einem der Ballen und will noch abwinken, da hat sie den ersten schon in der Hand.
Arune breitet den Tweed vor mir auf dem Tisch aus. In der Fläche zeigt sich der Wollstoff plötzlich wie verwandelt: Wusste ich in Regallage noch, welche Farbe er hat, so ist es mit dieser Sicherheit nun vorbei. Jedes genauere Hinschauen lenkt den Blick auf neue Webfäden in immer neuen Farben. Dann wieder spielen alle zusammen wie in einem einzigen Ton. Dieser Stoff ist wirklich von Liebhabern: In der unmittelbaren Nähe entfaltet er seine volle sinnliche Kraft, und mit zunehmendem Abstand zieht er sich zurück in Diskretion.
„Die Tage war ein Mann hier. Er wünscht sich schon seit Jahren ein Sakko aus diesem Tweed. Es berührt mich, wenn Leute diese Stoffe so schätzen, dass sie auf ein Kleidungsstück sparen. Wenn sie dann zu mir kommen, ist das für mich eine Verantwortung, aber auch wirklich eine Freude.“
Später reden wir noch einmal über meine Figur und was wir für sie tun können. Ich lerne: Dieses Handwerk dient der menschlichen Gestalt. Es leitet eine Metamorphose ein, die sich im Spiegelbild vollzieht – das Maßnehmen an der Realität und das Schneidern einer Möglichkeit. „Manche Leute strecken sich beim Maßnehmen wie ein König.“ Ihre Kunden sind das, denke ich, als ich mich von Arune verabschiede.
Petra Wegmann
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